Beim IFAPLAN-Kamingespräch besprechen Vater Dieter und Sohn Marcel aktuelle Themen aus Wirtschaft und Gesellschaft.
In diesem Monat: „Vision Zero“
Marcel: Die EU hat sich mit dem Projekt „Vision Zero“ das Ziel gesetzt, bis 2050 die Zahl der Verkehrstoten auf Null zu senken. Ist diese Vorstellung realistisch?
Dieter: Das Projekt der EU ist sogar noch deutlich ehrgeiziger. Man will nicht nur die Zahl der Verkehrstoten auf Null senken, auch die Anzahl der Verletzten soll diesen Wert erreichen und letztlich soll es gar keine Verkehrsunfälle im Straßenverkehr mehr geben.
Nach meiner Meinung ist diese Zielvorgabe in ihrem Absolutheitsanspruch zwar unrealistisch, ihr zentraler Wert liegt aber darin, dass sie eine klare Perspektive für die Politik und die Verkehrssicherheitsarbeit in Europa vorgibt.
Vision Zero ist also eher ein Vehikel zur „relativen“ Zielerreichung, „relativ“ deshalb, weil es natürlich auch in Zukunft Unfälle, Verletzte und Getötete im Straßenverkehr geben wird.
Mein Pessimismus hinsichtlich der Erreichbarkeit der Ziele von Vision Zero resultiert vor allem aus der Tatsache, dass der technische Fortschritt und insbesondere die anvisierte Automatisierung des Fahrens zwar einen Quantensprung für die Sicherheit von Fahrzeuginsassen bedeutet, Fußgänger und Radfahrer aber weniger von diesen technologischen Fortschritten profitieren werden. Dies gilt insbesondere für Kollisionen zwischen Radfahrern und solchen zwischen Radfahrern und Fußgängern.
Richtig ist diese Aussage natürlich nur solange wie Radfahrer und Fußgänger nicht auch entsprechend hochgerüstet werden. Wenn sie also beispielsweise durch ihr Smartphone oder ein anderes Gerät jederzeit im öffentlichen Raum in ihrem Bewegungsverhalten registriert und gewarnt werden können. Aber das ist genau der springende Punkt: Bei Radfahrern und Fußgängern kann ich mir allenfalls eine Gefahrenwarnung vorstellen, ein Eingriff in deren Bewegungsabläufe erscheint mir dann doch allzu utopisch.
Zusätzlich gilt es noch zu bedenken: Vision Zero bringt nicht allein direkte Vorteile in der Verkehrssicherheit, sie hat auch bedeutsame ökonomische Effekte. Sie schafft Anreize für die Industrie, die Vernetzung und Automatisierung der Verkehrssysteme voran zu treiben und fördert so die Entwicklung der entsprechenden Märkte.
Marcel: Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Fahrassistenzsysteme und automatisiertes Fahren?
Dieter: Zunächst einmal gilt es zu beachten, dass Assistenzsysteme und automatisiertes Fahren ganz unterschiedliche Ausprägungsgrade haben können. Ein erfolgreiches Assistenzsystem war bereits vor Jahrzehnten das ABS, heute gibt es „Assistenten“ für zahlreiche Fahrfunktionen und Fahrmanöver. Es geht dabei darum, den Fahrer mehr und mehr von Fahraufgaben zu entlasten bis hin zur Vollautomatisierung, bei der der Fahrer nur noch bei Bedarf in das Geschehen eingreift.
Das von manchen Experten als Extremszenario bezeichnete Ende der Entwicklung ist dann ein völlig autonom fahrendes Fahrzeug, bei dem nicht mehr eingegriffen werden kann und der Fahrer zum Passagier wird.
Marcel: Wie wird das in der Übergangszeit aussehen?
Dieter: In der Übergangszeit, während der sich sowohl individuell gesteuerte wie auch automatisierte Fahrzeuge im gleichen Wegenetz bewegen, kommt es zu interessanten Konsequenzen. Da automatisierte Fahrzeuge darauf programmiert sind, Unfälle auf jeden Fall zu vermeiden, werden sie in Konfliktsituationen immer zurückstecken müssen. Welche Konsequenzen dies für die Fahrweise der konservativen Lenker gegenüber automatisierten Fahrzeugen hat, bleibt abzuwarten.
Schwer abzuschätzen ist auch die Frage, wie lange die Zeit des „durchmischten“ Verkehrs von automatisierten und individuelle gesteuerten Fahrzeugen dauern wird. Zu einem Zeitpunkt, an dem die gesamte Fahrzeugflotte automatisiert ist, und die übrigen Autos verschrottet sind oder im Museum stehen, sind diese Probleme gelöst und Vision Zero könnte zumindest für den Autofahrer Wirklichkeit werden, es sei denn, Hacker bringen ein wenig Unordnung in die elektronischen Systeme…